Montag, Dezember 11, 2006

Wolfspelz

Entgegen der landläufigen Moral formuliere ich Schwüre ausschließlich, um sie bei der ersten günstigen Gelegenheit zu brechen. Zuletzt habe ich den grimmigen Schwur gebrochen, nie wieder Geld in einen bestimmten Kaffeeautomaten zu werfen. Ich bin davon überzeugt, dass sich in seinen Schaltkreisen aufgrund eines Produktionsunfalls irgendeine Bewusstseinsform verselbständigt hat, und der Automat sich im Delirium oxidierter Intelligenz nun ständig neuen Terror einfallen lässt, um den Adrenalin speienden Drachen meiner Koffeinsucht zu reizen.

Dabei hatte ich mich weniger daran gestört, dass der gierige Einwurfschlitz meine Münzen ohne Gegenleistung verschlang, dass die Milch in der Rotzkiste regelmäßig sauer war, oder dass die aus den grollenden Tiefen der Maschine geförderte Menge Cappuccino zuweilen einem halben Zentiliter entsprach - was ich als deutlich schmerzhafteren Schlag ins Gesicht empfand, als null Zentiliter Cappuccino. Die Gemeinheiten des Automaten sind in der Summe ärgerlich, aber der eigentliche Anlass für meine, an das Tourette-Syndrom grenzenden Wutausbrüche war, dass mich jede einzelne Situation an die Fernsehserie Kottan ermittelt erinnert hat, und ich mir vorkam wie eine Persiflage auf eine Persiflage. Ich finde Persiflagen per se unerträglich, und eine Meta-Persiflage, in der man selbst die unfreiwillige Hauptrolle spielt, wäre in bestimmten Momenten ein hinlänglicher Grund, unter Verwendung nuklearer Waffen den Dritten Weltkrieg auszulösen. Von mir aus mit dem Ergebnis einer vollständigen Zerstörung der Erdoberfläche einschließlich sämtlicher Kaffeeautomaten. In solchen Augenblicken der Unzurechenbarkeit dürften sich die Joysticks des Pentagons oder des Kremls jedenfalls nicht in meiner Nähe befinden. Und alles aufgrund eines epigonalen Drehbuchs, das von einem bösartigen Kaffeeautomaten zusammengekritzelt wurde.

Sämtlichen Zeichen der Apokalypse zum Trotz zieht mich der vom Satan besessene Kaffeeautomat an wie ein Magnet der Hölle, und immer, wenn ich scheinbar zufällig in seiner Nähe bin, durchsuche ich meine Taschen mit zitternden Händen nach Kleingeld. Anschließend erneuere ich meinen Schwur bei allem, was mir unheilig ist, und formuliere ihn jedes Mal noch grimmiger.

Endlich besitzt mein einsamer Stammleser schwarz auf weiß, was bislang nur zu vermuten war: Der Betreiber des vorliegenden Weblog hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich muss es sogar betonen: Mir fallen regelmäßig die Tassen aus der Hand und zerbrechen beim Aufschlag auf dem zementierten Boden der Realität. Und damit meine ich nicht nur die Kaffeetassen. Zwar regt sich nach jeder Katastrophe für einen Moment der emotionalen Zurechenbarkeit das Gewissen, aber ich besitze kein Geschick im Sortieren und Kleben von zerbrochenem Porzellan. Das mag bedauerlich klingen, aber irgendwann lernt man, mit den unterschiedlichen Ausprägungen von Talentfreiheit zu leben. Erwerben kann ich jene Fähigkeit zur kunsthandwerklichen Restaurierung jedenfalls ebenso wenig, wie ich es jemals lernen werde, einen Koffer ordentlich zu packen.

Und wo mir gerade die Tassen aus dem Schrank fallen und zusammen mit vergilbten Schwüren zerbrechen, werfe ich gleich noch einen Schwur hinterher - damit es sich rentiert, den Müll rauszubringen. (Der Entsorgungspark www kennt zwar keine Kapazitätsgrenzen, aber der Weg in den Hinterhof ist manchmal beschwerlich.) Beim Aufstellen meiner Mülltonne hatte ich mir geschworen, mich niemals an den Überlegungen zum Sinn eines Weblog zu beteiligen. Heute gilt es, diesen Schwur möglichst ketzerisch seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen, und ihn in einen überzeugenden Meineid zu transformieren.

Schon bei der Begriffsdefinition stauche ich mir das Hirn an der ersten Hürde. Ein Weblog sei ein Onlinetagebuch (Duden). Ich habe den Sinn von Tagebüchern schon bei der Lektüre von Max Frisch nicht kapiert, der einen Teil seiner Tagebücher gezielt für das Publikum geschrieben hat. Noch weniger verstehe ich Publikationen jener Gattung, in denen penibel Einkaufszettel und ähnlicher Quatsch dokumentiert werden. Zum Beispiel Thomas Mann schubst mich mit Schilderungen seiner Alltäglichkeiten vom Pfad der Aufmerksamkeit. Historiker mögen dies gerne unter anderen Gesichtspunkten beurteilen, aber in meinen Augen kommt in solchen Texten entweder die Eitelkeit, oder die Einfallslosigkeit der Autoren zum Ausdruck. Ich habe noch nie ein Tagebuch geführt, denn die merk-würdigen Ereignisse meines Daseins merke ich mir. Dabei muss Merk-würdiges nicht bemerkenswert sein. Und was ich vergesse, hätte eine Niederschrift erst recht nicht verdient.

Manchmal klettere ich über die Zäune fremder Baustellen im Entsorgungspark www, um mir Rohstoffe zu besorgen, die von dortigen Architekten und Ingenieuren großzügig angeboten werden. Gedankliches Baumaterial besitzt wunderbare Eigenschaften, denn es gehört zu den Stoffen, die bei Weitergabe nicht den Besitzer wechseln, sondern sich verdoppeln. So ähnlich sah das jedenfalls Herr Brecht, der beim Verdopplungsprozess von Werkstoffen großzügige Unterstützung seitens des weiblichen Hilfspersonals gefunden haben soll.

Den größten Teil meines Rohmaterials besorge ich im Baustoffhandel Tagespresse, denn die Welt steht in den Zeitungen, wie man von Thomas Bernhard lernen kann. Aus den unterschiedlichen Rohstoffen entstehen durch die chemische Reaktion mit vorhandenen Erfahrungen jene Erzeugnisse, die ich teilweise hinter meinem Bauzaun ablade und zur Verfügung stelle. Vor allem aber stelle ich die Erzeugnisse zur Diskussion, und das ist mein zentraler Grund für den Betrieb von frischerfischvonvorgestern.de. Es geht mir um den Dialog, und allein auf diesem Punkt beruht der unvergleichbare Vorteil von Weblogs gegenüber anderen Medien. Auf keiner anderen Publikationsplattform ist ein ähnlich schneller Dialog - oder Multilog - zwischen Schreibern und Lesern möglich. Man wächst nicht nur am eigenen Geist, und über die Kommentare habe ich schon viele Hinweise und Einflüsse erhalten, die meine Texte prägen.

Ich bin kein Kuscheltier, sondern mit einem dicken Wolfspelz ausgestattet, der mich vor Bissen schützt. Raufereien habe ich immer gut ausgehalten, wobei es mir nie um das Ausfechten einer Rangordnung ging. Falls ich mich zuweilen in einem rauen Ton äußere, bitte ich zu berücksichtigen, dass in diesem Wolfspelz kein Lamm festgewachsen ist. Und da ich das Heulen mit den anderen Wölfen nie gelernt habe, verhalte ich mich nicht immer artgerecht. Manchmal will ich lieber die ganze Tierwelt gegen mich wissen, als in den Sog der Eitelkeit zu geraten und meine Haltung für irgendeinen einzelnen Wolf zu verbiegen.

Sollten Sie sich gelegentlich auf der Müllkippe hinter dem Bauzaun meines Reviers herumtreiben, setzen Sie eine entsprechende Duftmarke, falls die zur Verfügung gestellte Beute meiner Gedankenjagd nicht schmackhaft ist! Testen Sie meine Nehmerqualitäten! Und das ist keine Drohung.

Sonntag, Dezember 10, 2006

In der Geisterbahn des zweiten Advent

Die Erinnerung pflügte graue Furchen in seine Stirn, während er vor dem Schalter wartete und an die Zeit dachte, als sie noch drei Gleichgesinnte waren, die sich demselben Ziel verschrieben hatten. Früher nahmen sie weite Wege in Kauf, um gemeinsam zu den Jahrmärkten des Grauens zu reisen. Der Zweck ihres Bundes bestand darin, in den globalen Geisterbahnen die Ursachen von übersinnlichen Wahrnehmungen zu bekämpfen. Denn wo sich ein Spuk verdichtete, konnte er in Form von schwellenden Angstknoten großes Unheil über die Menschen bringen. Dabei besaß die kindliche Angst ein ungleich höheres Verdichtungspotenzial, als die Angst der Erwachsenen. Wenn ein Angstknoten platzte und seine Metastasen freisetzte, konnte es zur Katastrophe kommen. Diese Gefahr bestand, wenn eine Fähre durch ein Unwetter gesteuert werden musste, oder ein Flugzeug in Turbulenzen geriet. Oder wenn die Kontrolle über eine Geisterbahn verloren ging.

Als er dem Hünen mit der Glatze und dem vernarbten Gesicht seinen Fahrchip in die Faust drückte, schien dieser mit einem wissenden Blick an ihm vorbei zu sehen. Der Hüne klappte den Sicherheitsbügel um, als sich die Welt langsam in Bewegung setzte, und er in seinem Sitz auf den Rachen des Monsters zusteuerte.


Das Schicksal geizte nicht mit Phantasie. Den Sohn hatte es als zweiten in Disneyland erwischt, nachdem seinem Vater ein Massenmord
monster in einer osteuropäischen Geisterbahn den Garaus gemacht hatte, und nun war auch noch der heilige Geist vernichtet. Das Trio mit den Clubaufnähern der heiligen Dreieinigkeit an den Jackenärmeln war vollständig aus der Welt radiert. Die letzte Instanz des Verbraucherschutzes für Geisterbahnen war ausgelöscht. In einer Geisterbahn auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt.

Gabriel hielt das Lebkuchenherz mit dem Zauberspruch fest. Der Knall und das viele Blut hatten ihn fürchterlich erschreckt, aber die Angst war besiegt. Nun würde er auch dem dicken Kerl mit der roten Mütze und dem weißen Bart, der ihn schon aus der Ferne mit dem Blick eines Monsters ansah, unerschrocken entgegentreten.

Am nächsten Tag war im Lokalteil zu lesen, dass sich ein Mann während der Fahrt im Kettenkarussell auf dem Weihnachtsmarkt erschossen hatte. Der Mann sei ein langjähriger Psychiatriepatient gewesen.

Freitag, Dezember 08, 2006

Motto #6

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Donnerstag, Dezember 07, 2006

I am not an Elephant

I am not an Elephant!
I am not an animal!
I am a human being!
I am a man!
Joseph Merrick

Mittwoch, Dezember 06, 2006

Motto #5





[Der Longdrink Cuba Libre wurde vermutlich von einem übermüdeten Barkeeper erfunden, der sich bei den Amerikanern einschleimen wollte, weil sie irgendwann um 1898 die spanischen Kolonialherren von der Insel ins Meer geschubst haben. Aber das Motto ist unter den anschließenden Konstellationen zu verstehen, und die treffendere Bezeichnung Mentirita (kleine Lüge) hat sich leider noch nicht international durchgesetzt.]

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Dienstag, Dezember 05, 2006

42,6 Grad in der Dämmerung

Menschen. Alle gleich. Haben sich als Laune der Evolution durchgesetzt, wie sich irgendwann jede schlechte Laune durchsetzt. Struggle for life, survival of the worst. Man sollte sie zwar nicht auf ihre gemeinsamen Bedürfnisse reduzieren, aber selbst wenn man diese Wesen einzeln betrachtet, unterscheiden sie sich nicht voneinander. Dabei unterstellen sie ihrer eigenen Art, jeder anderen Daseinsform durch die besondere Ausprägung geistiger Fähigkeiten überlegen zu sein. Lächerlich. Sie halten die Kombinationsmöglichkeiten ihrer Gedanken für unbegrenzt. Aber tatsächlich ist jeder Einfall, den ihr zerebraler Gewebeklumpen auf unspektakuläre Weise erzeugt, eine Wiederholung. Ständig wiederkehrende Gedanken werden mit einer bemerkenswerten Unermüdlichkeit in Variationen abgesondert. Diese Form des Bewusstseins, das auf banale Stoffwechselprozesse angewiesen ist, gehört zu den primitivsten Kategorien. Vor allem der dunkelste Teil ihres Bewusstseins, den sie Gefühlsleben nennen, ist schwach entwickelt und bildet schablonenartig immer wieder dieselben Reize ab. Davon abgesehen, dass Menschen nicht in der Lage sind, neue Ideen zu entwickeln, ist ihnen eine kollektive Vernetzung des Bewusstseins nicht

Hier endet das gedankliche Protokoll einer Tsetsefliege im Anflug auf die Armbeuge ihrer Zielperson. Das Insekt drang mit seinen Saugrüssel unter die weiche Haut und wurde kurz darauf zerquetscht. Das Bewusstsein der Fliege war jedoch nicht auf Stoffwechselprozesse angewiesen und existierte körperlos weiter, bis es eine neue Chitinkarosse besetzte.

Durch den Stich der Tsetsefliege wurden Trypanosoma in den Organismus übertragen, und nach drei Wochen brach das Fieber aus. Die Erreger vermehrten sich. Über elektrische Stürme im zerebralen Gewebeklumpen ihres Wirts und Schülers erzeugten sie ihre Träume, in denen sie den Kranken Erkenntnis lehrten. Denn auch die Erreger der Schlafkrankheit gehörten einer höher entwickelten Bewusstseinskategorie an, die sich der Tsetsefliege als Transportmittel bediente.

Beim Anblick der Traumzeichen aus einer anderen Welt krümmte sich der Fiebernde auf seiner Lagerstätte, während er stöhnte und dabei im eigenen Schweiß fast ertrank, im eigenen Gestank fast erstickte. Er schwamm und schnappte nach Luft, aber er hielt die Schmerzen und Bilder der Erkenntnis aus. Als er endlich im Fieber alles klar sah, verließ sein Bewusstsein das überhitzte Gefährt des Körpers. Selbständig setzte es seine Reise auf einem staubigen Weg fort, ohne sich nach dem auskühlenden Wrack umzusehen, das im Dämmerzustand vegetierte. Das Bewusstsein bewegte sich in eine Richtung, die weder ins Licht, noch in die Dunkelheit führte. Aber es war davon überzeugt, dass es die richtige Richtung war. Denn es kam nicht auf die Richtung an, sondern auf die Bewegung.

Vielleicht wird das Protokoll irgendwann fortgeführt. Vom kollektiven Bewusstsein der Tsetsefliege oder einzelligen Trypanosoma. Vielleicht auch vom Bewusstsein eines Fiebernden. Vielleicht wird es auch nicht fortgeführt, weil höhere Bewusstseinsformen die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Mensch als Verschwendung von Ressourcen betrachten und sich auf die Suche nach noch höheren Bewusstseinsformen begeben.

Sonntag, Dezember 03, 2006

Voodoo display #8


"Erst Ploppen dann Poppen
Süffig, wild und anregend, geiler Stoff"

Hier wird versucht, zum Fest der Liebe eine merkantile Brücke zwischen zwei Trieben zu schlagen. Auch wenn der akademische Titel des Anbieters eine fachlich fundierte Empfehlung zum Wohl der Gesundheit suggeriert, bleibt das Konzept fragwürdig. Vielleicht fühlt man sich beim Zweifel an der Synergie auch nur durch die inhaltliche Reihenfolge des Slogans irritiert. Aber an dieser Stelle soll vermutlich die auf dem Label vorgeschlagene Praxis ins Spiel kommen.

Konsequent wurde neben den Düsen eine DVD mit dem Titel Taxi zum Klo drapiert, und auch die letzten Tage können kein Zufall sein. Semiotische Raffinessen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Historie des zuständigen Ausbildungsberufs. 1949 wurde das Berufsbild Schaufenstergestalter/in anerkannt, welches 1980 durch den Nachfolgeberuf Schauwerbegestalter/in abgelöst wurde, und seit 2004 darf man Gestalter/innen für visuelles Marketing für jenen Zweig des Kunstgewerbes verantwortlich machen.

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Samstag, Dezember 02, 2006

Am Wühltisch der Meinungen

Im medialen Dauerschlussverkauf ist nichts so billig zu bekommen wie eine Meinung. Wie viele Zeitgenossen widerstehen den Sonderangeboten ihrer Tage und legen beim Meinungs-Discounter kein günstiges Produkt in den Einkaufswagen?

Hochglanzprospekte mit knallbunten Ansichten und Meinungsbildern werden von den Zustellern in die Briefkästen von Millionen Haushalten geworfen. Die Austräger der Meinungen müssen Mindestabsätze erzielen und achten nicht auf die vergilbten Zettel mit der Aufschrift Bitte keine Meinung, die von Bewohnern kritischer Köpfe an den Briefkästen angebracht wurden.

Auch aus allen anderen Kanälen werden die Wohnzimmer mit Meinungen gefüllt. Beim Shopping muss man keine Ladenschlusszeiten beachten, an den Wühltischen der Großhandelsketten werden die Meinungen rund um die Uhr zu Schleuderpreisen verteilt. Der Warenwert ist aufgrund der kurzen Haltbarkeit grotesk inflationär, und für die Abnahme vieler Produkte werden die Kunden nicht zur Kasse gebeten, unaufgefordert verpacken die Verkäufer jede gewählte Meinung als Geschenk. Wenn die Euphorie bei absatzfördernden Sonderaktionen zu Markenartikel eskaliert, kommt es im Gedränge am Wühltisch nicht selten zu Gewalttätigkeiten, denn die Kunden sind eher dazu bereit, sich kämpfend mit den konkurrierenden Schnäppchenjägern auseinanderzusetzen, als mit dem tatsächlichen Wert einer Meinung.

Schon lange findet die Ausschussware keinen Platz mehr auf den Wühltischen der großen Meinungshäuser. Während unkanalisierte Meinungsfluten durch die Straßen strömen, gibt es zu jeder Welle eine mächtige Gegenströmung. Man kann nicht gegen die Strömung schwimmen, ohne in eine andere Strömung zu geraten. Bei Stürmen ziehen tückische Meinungsstrudel auch geübte Schwimmer unter die Oberfläche ihrer distanzierten Wahrnehmung. Selbst Profis ertrinken in den Fluten, wenn ihre eigene Meinung durchlässig ist, und sie der Erschöpfung oder der Gleichgültigkeit nachgeben.

Freitag, Dezember 01, 2006

Die Buddelschiffflotte

Obwohl es ihm an nichts fehlte, spielte Escher mit dem Gedanken an eine schöpferische Tätigkeit. Außerhalb seines beruflichen Daseins verbrachte er die meiste Zeit des geregelten Alltags im Ohrensessel. Mit jenem rasanten Gefährt bereiste er sämtliche Klimazonen in der Welt seiner entlegensten Vorstellung. Durch das Schließen der Augen drehte Escher den Zündschlüssel. Der Ohrensessel vibrierte leicht beim Starten und erreichte kurz darauf die erforderliche Betriebstemperatur. Für die Beschleunigung von Null auf jede gewünschte Reisegeschwindigkeit benötigte das Vehikel nur den Bruchteil eines Gedankens.

Nach einer entbehrungsreichen Expedition an den Rand seiner Vorstellung, hinter dem keine Himmelsrichtung mehr auszumachen war und das Nichts keine Farbe mehr besaß, verspürte Escher die Sehnsucht nach etwas Bleibendem. Während er in sein Wohnzimmer zurückkehrte, kam der Ohrensessel langsam zum Stillstand. Escher füllte die Leere im Raum mit suchenden Blicken. Er sah sich selbst mit keinerlei künstlerischer oder handwerklicher Begabung ausgestattet, und so erwiesen sich seine Überlegungen zur Schaffung eines bleibenden Wertes als mühsam.

Einer der Blicke blieb an der zur Hälfte geleerten Rotweinflasche auf dem Nierentisch hängen. Sein Mund folgte dem Blick, und nachdem die Flasche trocken war, wusste Escher, wie er seine schöpferische Kraft entfalten konnte, um etwas Bleibendes zu schaffen. Er besorgte sich mechanische Werkzeuge und viele Streichholzpackungen. Die dunkelgrüne Rotweinflasche war ein ungewöhnlicher Ort, um ein Buddelschiff zu beherbergen. Aber das Leeren einer Weißweinflasche hätte seine Konzentration geschwächt, und das grüne Licht im Inneren der Rotweinflasche förderte die schöpferische Stimmung.

Ungezählte Nächte arbeitete Escher an dem Buddelschiff. Endlich stand der stolze Viermaster mit gehissten Segeln in der Flasche. Auf dem Vorderdeck des Schiffes saß ein Seemann, der aus einem Streichholz geschnitzt war und ein Buddelschiff in seinen Händen hielt, denn Escher hatte eine winzige Flasche aus grünem Glas geschaffen und in die Hände des Seemanns gelegt. In der winzigen Flasche befand sich ein weiteres Buddelschiff. Auf dem Vorderdeck des Schiffes im Schiff saß ein weiterer Seemann.

Auf dem Weg zum Altglascontainer erinnerte sich Escher nicht mehr, wie viele Buddelschiffe in Buddelschiffen sich in der Rotweinflasche befanden. Jahrelang hatte er jedes Mal, wenn er einen Seemann mit einem Schiff im Schiff des Seemanns vollendet hatte, einen weiteren Seemann mit einem Schiff in das Schiff des Seemanns mit einem Schiff gesetzt.

Unhörbar leise klirrte es in der Plastiktüte bei jeder Bewegung. Als Escher die Flasche durch die Öffnung für grünes Glas in den Container werfen wollte, hielt er inne. Vorsichtig legte er das Buddelschiff zurück in die Tüte. Dann setzte Escher seinen Weg fort und ging zum Fluss, wo er die Rotweinflasche mit einem Korken verschloss und auf eine der sanften Wellen setzte. Während er dem Behälter seiner Hoffnung auf etwas Bleibendes hinterher sah, wurde ihm bewusst, dass es Bruchstücke seiner Lebenszeit waren, die auf der braunen Brühe in Richtung größerer Gewässer trieben.

Die Buddelschiffflotte erreichte den Horizont nie, sondern zerbrach an einem Brückenpfeiler und landete auf dem Schiffsfriedhof zwischen anderem Unrat im Flussschlamm. Escher blieben die bleibenden Werte verschlossen, aber er hatte sein Wissen über die Tiefe der Vergänglichkeit vertieft.

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