Freitag, September 29, 2006

Eine Ikone des Islam, T.error.east und die Ära des Automaten-Remotismus

Sobald er, umrahmt von einem göttlichen Inferno, ins Paradies eingezogen wäre, würde den Nachfolgenden nur die Hoffnung bleiben, dass für den Zeitpunkt der Beendigung ihres eigenen irdischen Daseins noch ausreichend Jungfrauen übrig waren.

Ali T. war ein Kultstar unter den Terroristen. Es existierte nur ein einziges Phantombild von Ali T., das nach widersprüchlichen Aussagen konstruiert worden war und sowohl internationale Fahndungsplakate, als auch die Wände islamistischer Jugendzimmer schmückte. Seit er sich zu dem legendären Anschlag in der Pariser Metro bekannt hatte, stiegen die Einnahmen für Fanartikel in himmlische Sphären, und Ali T. wurde zur Ikone des Islam. Vom Schlüsselanhänger bis zum Dameslip wurden unzählige Produkte mit seinem Konterfei in chinesischen Hinterhöfen fabriziert. Der Erfolg spülte Geld in die Kassen der Bewegung, zusätzlich zu den Mitteln, die mit dem Drogenhandel erwirtschaftet wurden.

Früher wäre einer wie er vielleicht auf der Modewelle des Muslimrap geschwommen, aber er hatte die Gunst der Stunde genutzt und wurde mit der Kunstrichtung des antiwestlichen Terrorismus erfolgreich. Viele wandelten in den desaströsen Fußstapfen ihres Terroridols, doch sein Stil blieb einzigartig. Seine Aktionen zeichneten sich durch eine maximale Anzahl von Opfern und den Überraschungseffekt der unerwarteten Ziele aus. Er versenkte ein Kreuzfahrtschiff auf der Donau und sprengte ein Riesenrad auf dem Münchner Oktoberfest.

Der Höhepunkt seiner Karriere sollte die Entführung eines Passagierflugzeugs sein, das er nach dem Start in Dubai in seine Gewalt bringen und anschließend in den Frankfurter Hauptsitz der Europäischen Zentralbank steuern wollte. Mit diesem Opfer wäre Ali T. ein Platz zwischen den Jungfrauen im Paradies und Unvergessenheit auf Erden sicher gewesen.

Es gelang Ali T., die Besatzung des Flugzeugs zu überwältigen. Als er jedoch versuchte, sein mühsam in den USA erworbenes aeronautisches Wissen anzuwenden, reagierte die Maschine nicht auf seine Navigationsversuche, sondern änderte den Kurs unbeirrbar in Richtung Mekka.

Zwei französische Teenager hatten aufgrund einer selbstentwickelten Spyware, eines Zufalls, und ihrer Arabischkenntnisse von den Plänen des Ali T. erfahren. Die beiden, die als Hacker unter den Decknamen Circlecubezero und Heavy Mabel agierten, schauten sich triumphierend in die Augen. Dem Virus, den sie T.error.east genannt und über eine Anfrage per Email in das Netzwerk der Fluggesellschaft eingeschleust hatten, war es gelungen, sich durch sämtliche Firewalls zu fressen und im System des Fluges ISL7777 die Steuerung mit den Zielkoordinaten der Kaaba zu übernehmen.

Den Abfangjägern vom Typ MIG-31 hingegen gelang es nicht, ISL7777 vor der Detonation im zentralen Heiligtum des Islam vom Himmel zu holen. Mit weit aufgerissenen Augen sah Ali T. die Kaaba auf sich zukommen, bevor er verglühte, und sein ausgelöschtes Bewusstsein keine Gelegenheit mehr erhielt, zu erfahren, dass es keine Jungfrauen nach dem Tod gab. Zusammen mit Ali T. starben dreitausend Moslems, die eigentlich nur die vorgeschriebenen sieben Runden gegen den Uhrzeigersinn um die Kaaba pilgern wollten.

Anhand der Passagierlisten und aufgezeichneten Bordprotokolle wurde der Mann im Cockpit als der weltweit gesuchte Terrorist Ali T. identifiziert. Seine Vorbereitungen konnten zurückverfolgt werden, zwei Komplizen wurden verhaftet. Der Westen erklärte das Unglück mit der narzisstischen Geistesgestörtheit des Ali T., die islamische Welt machte die CIA und den Mossad verantwortlich.

Circlecubezero und Heavy Mabel veröffentlichten Teile des Quellcodes von T.error.east anonym im Internet, um ihr Wissen anderen Hackern für die weitere, kreative Bearbeitung zur Verfügung zu stellen. Sie hatten Ali T. zur Strecke gebracht und wurden zu geheimen Helden von abendländischen Untergrundgruppierungen. Mit ihrer Vorgehensweise hatten sie außerdem eine neue Kunstrichtung des Terrors begründet, die lange Zeit später als Ära des Automaten-Remotismus in die Geschichte eingehen sollte.

Zwei Jahre nach ihrem Anschlag starben Circlecubezero und Heavy Mabel bei der Kollision eines Schnellzuges mit mehreren Güterwaggons, die sich auf einem Abstellgleis zwischen Lyon und Marseille befanden. Der Virus, über den die Steuerelektronik der Weiche manipuliert wurde, nannte sich T.error.west046 und war eine Binovular-Software von T.error.east. Zum Zeitpunkt des Unglücks gingen bereits neue Viren auf die Suche nach Anschlagszielen. Die Programme waren inzwischen in der Lage, sich selbständig weiterzuentwickeln und verteilten sich in alle Netzrichtungen.

Donnerstag, September 28, 2006

Longflame

Mittwoch, September 27, 2006

Bausatz Guru Urug

Auslagen von Schaufenstern erweckten sein Interesse ebenso wenig, wie die anderen Formen der Verbraucherinformation. Aber jedes Mal, wenn Escher am Laden für Modellbauzubehör vorbei kam, hielt er für einen Moment inne, um sich darüber zu wundern, mit welchen bizarren Beschäftigungen manche Artgenossen ihrer Zeit einen Strick drehten. Scheinbar alles existierte in Form von Modellen. Das Angebot reichte von mittelalterlichen Segelflotten, über Schützengrabenszenarien aus dem Ersten Weltkrieg, bis hin zu Fluggeräten jeder Art.

An einem verregneten Septembersonntag leuchtete Escher aus dem Schaufenster des Ladens für Modellbauzubehör eine rote Laufschrift entgegen: +++ verehre nicht die fremden Götzen der anderen +++ bau dir einen Gott, der zu dir passt +++ hier in allen Größen +++ ab 13,- +++

Im ersten Moment versetzte die Unhöflichkeit, von einer wildfremden Laufschrift geduzt zu werden, seiner Eitelkeit einen kleinen Stich. Aber dann begriff er, dass die Laufschrift jeden seltenen Passanten in diesem Winkel der Stadt duzte. Vermutlich konnte man es sich als Verkäufer von Götterbausätzen erlauben, seine Kunden auf Umwegen zu duzen.

Ohne den geringsten Zweifel am Wahnsinn seiner Unternehmung betrat Escher den Laden für Modellbauzubehör. Es roch nach Klebstoff, und ihn überkam ein wohltuendes Schwindelgefühl. Neben dem Verkaufstisch stand eine Chinesin, die ihn hinter dem dünnen Vorhang ihrer langen, schwarzen Haare anlächelte. Vorsichtig erkundigte sich Escher nach den Bausätzen für persönliche Götter. Die Chinesin stellte sich als Angel Ki vor, und Escher fühlte sich sofort in guten Händen. Sie erklärte ihm, dass im Vorfeld des Kaufs eine Ellenbogenanalyse nötig sei, um die passende Modellvariation festzustellen. Dieses Verfahren kam Escher ungewöhnlich vor. Aber aufgrund ihres bezaubernden Namens setzte er ein großes Vertrauen in die Chinesin, zumal ihm ihre schwarzen Augen gefielen und er nicht die geringste Ahnung vom Modellbau hatte.

Die Ellenbogenanalyse erschien ihm routiniert. Im Anschluss daran verkaufte ihm die Chinesin den Bausatz für seinen persönlichen Gott im Wert von 779,-. Mit einer zeremoniell anmutenden Geste und einem tiefschwarzen Blick überreichte sie Escher einen würfelförmigen Karton, der eine Kantenlänge von zwei Handlängen aufwies. Auf der Verpackung prangten die Lettern Guru Urug in orangefarbener Frakturschrift.

Escher bezahlte seinen Gott in bar und erhielt ungefragt einen Preisnachlass von zwei Prozent. Das machte ihm die Chinesin noch symphatischer. Dann musste er einen Haftungsausschluss für spirituelle Folgeschäden unterschreiben. Die Chinesin meinte, diese Formsache sei in der Branche seriöser Händler für Götterbausätze üblich.

Behutsam trug Escher den Karton durch den Sprühregen nach Hause. Der Bausatz seines persönlichen Gottes erhielt einen Ehrenplatz im Eichenregal, unmittelbar neben Brehms Tierleben. Anfangs beobachtete Escher den Karton ebenso argwöhnisch wie respektvoll aus seiner Sitzposition im Ohrensessel. Später legte sich eine pietätvolle Staubschicht über den Bausatz des Guru Urug, in der Art der Staubschicht über dem anderen Inventar seiner Wohnung. Geöffnet hat Escher den Karton nicht, denn er hatte nicht die geringste Ahnung vom Modellbau.

Eine unbestimmte Zeit nach dem Kauf des Guru Urug kam Escher durch einen Zufall wieder an dem Haus vorbei, in dem sich der Laden für Modellbauzubehör befunden hatte. Aus dem Schaufenster starrten ihn Schweinsköpfe aus Plastik an. Der Laden beherbergte eine Metzgerei. Escher fragte eine wuchtige Verkäuferin, die eine Schweinsmaske aus dem Schaufenster zu tragen schien, nach dem Verbleib des Ladens für Modellbauzubehör. Die Frau blickte ihn ausdruckslos an und erwiderte, einen solchen Laden habe es an dieser Stelle nie gegeben. Ihr handwerklicher Traditionsbetrieb befände sich seit vielen Jahrzehnten in diesem Haus.

Das erklärte, warum der Laden für Modellbauzubehör an jenem verregneten Septembersonntag scheinbar geöffnet hatte. Aber es war keine Erklärung für das tatsächliche Vorhandensein des Kartons mit den unsterblichen Bauteilen des Guru Urug, der weiterhin in Eschers Wohnung auf seine Montage wartete.

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Dienstag, September 26, 2006

Geschluckter Staub


Die letzten fünfzig Kilometer zur Grenze fuhr kein Bus. Der Kerl auf dem Beifahrersitz des Taxis hatte sich die Backen mit Opium vollgestopft und bog sein vernarbtes Gesicht vor den rechten Außenspiegel. Dabei fasste er sich mit seinen Fingern in die offenen Augen, schnitt Grimassen und lachte hysterisch. Unter seinen Fingernägeln waren tiefschwarze Dreckränder. Ich hatte ein Gefühl, als ob mir der heiße Wind die Haut aus dem Gesicht schnitt. Zum schwitzen war es zu heiß, die Luft war eine Wolke aus unsichtbarem Staub. Irgendwann brüllte ich, ohne meine eigene Stimme zu erkennen. Ich weiß nicht mehr, womit ich den Beifahrer in meinem Zorn beschimpfte, aber er kurbelte das Fenster hoch und schwieg endlich. Der Fahrer unternahm keine weiteren Versuche, den vereinbarten Preis nachzuverhandeln.

An die Grenzmauer hatte jemand mit blutroter Farbe in meterhohen Lettern ein Stammesgesetz gepinselt. WE DONT LIKE THE LEADERS IN TEHRAN RAFSANJANI AND CHAMENEI. Nicht auf der pakistanischen, sondern auf der iranischen Seite. An wen war die englische Botschaft gerichtet, direkt neben dem unvollendeten Rohbau aus bröckelndem Beton, in dem die Grenzer ihre ausdruckslosen Gesichter zur Schau stellten? An vereinzelte Reisende aus unerreichbaren Welten im Westen, die sich an diesen unwirklichen Ort verirrten?

Die Grenzer steckten in ausgewaschenen Uniformen. Als Entschädigung für die Langeweile hatte man eine kleine Portion Macht in ihre schmutzigen Hände übertragen, und im Bewusstsein dieser Macht genossen sie ihre armselige Aufgabe. Grenzer und Schulbusfahrer rund um den Globus weisen ein gemeinsames Merkmal auf: Sie lieben das kleine Revier ihrer Macht und herrschen auf niederste Weise.

Gegen vier Uhr morgens hielt der Bus auf einem großen Platz, mitten in Quetta. Der Motor verstummte, und es war totenstill. Einige Mitreisende waren durch die plötzliche Stille aufgewacht, warfen einen übermüdeten Blick aus dem Fenster, und suchten sich dann wieder eine erträgliche Stellung in den unbequemen, stinkenden Sitzen, um weiter zu schlafen. Ich wollte aussteigen, um zu einer Toilette zu gehen, aber die Tür blieb verschlossen. Der Busfahrer hielt sich an die nächtliche Ausgangssperre, die über Quetta verhängt war. Aus Richtung der Berge an der Grenze zu Afghanistan hörte man bis zum Morgengrauen Schüsse.

Das Hotelzimmer war dunkel und staubig wie die Männer in der Lobby. In ihren schwarzen Augen spiegelte sich ein Fernseher, in dem MTV lief und Madonna unverhüllte Körperteile zeigte. Auf den Straßen keine Frauen, nur gesichtslose Gespenster in schwarzen Hüllen, die an Mauern entlang eilten.

Zwei Tage wegen des Eisenbahnerstreiks festgesessen. Fast von Jugendlichen, die über Dächer rannten, gesteinigt worden. Jeder Mann trug eine Schusswaffe, und die Jungen werden dort schnell zu Männern.

Es gibt Gegenden auf diesem Planeten, in denen man fremd bleiben will. Belutschistan gehört dazu.

Montag, September 25, 2006

Patty Psychodata

Sommer 1954. Als Fliege sollte man dieses Problem eigentlich nicht kennen. Aber Patty überkam jedes Mal eine elementare Abscheu, wenn sie sich den Spuren von Fäkalien auf ihrer Stammtoilette näherte. Wo anderen beim Anblick von Kot auf dem Schüsselrand der Speichel in der Proboscis zusammenlief, verspürte Patty Psychodata einen Brechreiz. Urinspritzer auf den Fließen, das Manna von Abortfliegen, widerten sie an, und auch andere Ausscheidungen verspeiste sie nur ungern.

Das hatte nichts mit einer Fehlleistung ihres Geruchssinns zu tun, und auch den Geschmack fand sie ausgesprochen köstlich, aber Patty hatte einen grundsätzlichen Ekel vor der Lebensform entwickelt, von der die Ausscheidungen stammten. Es handelte sich um einen Ekel erkenntnistheoretischer Art. Innerhalb ihres Lebensraums, der öffentlichen Toilette im Hamburger Hauptbahnhof, fand Patty anhand ihrer persönlichen Beobachtungen die gängigen wissenschaftlichen Ergebnisse immer wieder bestätigt. Der Mensch gehörte zu den niedersten Lebensformen. Er verfügte weder über telepathische Fähigkeiten, noch konnte er fliegen. Er war zu groß und zu plump. Er war aggressiv und tötete Angehörige der eigenen Art. Seine Fortpflanzungsquote war bemitleidenswert. Eigentlich taugte er nur als Nahrungsmittellieferant.

Die Wiedergeburt als Abortfliege erforderte ein Maximum an erstklassigem Karma. Daher gab sich Patty alle erdenkliche Mühe, ein anständiges Leben zu führen. Sie betete zum Licht der großen Glühbirne, flog regelmäßig die religiösen Formationen und hielt sich an die Gesetze der Telepathie. In ihrem nächsten Leben wollte sie in einem Kuhstall wiedergeboren werden. Kühe waren deutlich höher entwickelte Tiere als Menschen, und ihre Ausscheidungen eigneten sich hervorragend zur Eiablage. Außerdem hatte sie via Telepathie vernommen, dass Kühe einen angenehmeren Körpergeruch besaßen als Menschen.

Es waren etwa siebzig Stunden nach menschlicher Zeitrechnung vergangen, seit sie aus ihrer Larve geschlüpft war, als Patty beschloss, auf ihre alten Tage noch etwas von der Welt zu sehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben als Abortfliege summte sie vorbei an den stumpfen Spiegeln und um die Ecke hinter dem äußersten Waschbecken, wo sich ein Vertreter der niederen Lebensform gerade mit einer unsinnigen Aktivität beschäftigte. Plötzlich sah Patty runde, kupferfarbene Gegenstände glänzen. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen. Eine neue Farbe, die Welt an der Schwelle zur Hamburger Bahnhofstoilette war aufregend! Sie flog auf die Gegenstände zu und landete sanft auf einer Untertasse. Bevor sie das Kupfer genauer untersuchen konnte, wurde ihr Bewusstsein in einem Sekundenbruchteil ausgelöscht.

Sommer 2006. Patty saß auf einem Stuhl am Eingang der Hamburger Bahnhofstoilette. Sie summte vor sich hin. Auf der Untertasse vor ihr lagen einige Münzen, kleine Beträge. Sie schob die Brille mit den dicken Gläsern über die Stirn, rieb sich die Augen und wünschte sich, in einem Leben nach dem Tod nicht mehr als Toilettenfrau wiedergeboren zu werden. Dann rollte sie das Flugblatt mit den Lebensmittelangeboten zusammen und erschlug zwei dieser lästigen Fliegen.

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>> Seelenwaberung
>> Anatomischer Atlas

Sonntag, September 24, 2006

Die untoten Hyänen

Sobald eine Schlacht entschieden ist, treten sie aus den klimatisierten Schatten der Bürotürme hervor und eilen den Siegern zu Hilfe, um vom Blut der Konkursmassen zu schöpfen und ihre Unersättlichkeit zu füttern. Ihre widersprüchlich weißen Hemden sind faltenfrei und imprägniert, fleckenlos strahlen Designerstoffe im gefrorenen Licht der Leuchtstoffröhren.

Wilde Posen erfreuen sich steigender Konjunkturwerte, aber neben der Präsentation geschliffener Zahnreihen beherrscht man auch die Klaviatur der gespielten Liebenswürdigkeit. Das großzügige Lächeln ist ebenso unverbindlich wie jedes Versprechen aus ihren Mündern, die sie wie Marionetten bewegen. Überhaupt scheinen sie von unsichtbaren Fäden gelenkt zu werden. An ihren Strippen zieht ein genetisch getriebener Machtmotor.

Ihre Karriere erfordert in erster Linie zwei Fähigkeiten. Wenn es um Misserfolge geht, muss man die Wendigkeit besitzen, seinen Kopf aus der Schlinge des Karriereknicks zu ziehen, und wenn es um Erfolge geht, muss man es verstehen, sich die Schlinge der Medaille um den eigenen Hals zu hängen. In beiden Fällen ist es unerheblich, wer tatsächlich für Misserfolg oder Erfolg verantwortlich ist.

Die Renditen müssen in west-östlichen Sturmböen steigen wie Papierdrachen. Abgestürzte Drachen verbrennen sie, und ihre Augen glänzen im Schein der Flammen. Aber auch ohne betriebliche Not werden Lebensgrundlagen von zahllosen Unbekannten vernichtet, während Verkündungen von Rekordgewinnen über die Ticker laufen. Ein Teil ihrer Vergütung beruht auf Aktienoptionen, und bei Entlassungen steigen die Kurse.

Der eigenen Entfremdung vom Ergebnis ihrer Arbeit sind sie sich nicht bewusst. Sie sind keine Unternehmer, sondern Manager, und Verantwortung ist ein sentimentales Lied aus der Antike.

Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben, dass alles noch schlechter werden kann.

Freitag, September 22, 2006

Frisches Fleisch von vorgestern

Drei Jahre waren seit Elsies Tod vergangen. Seither wünschte sich Herrmann nichts sehnlicher als das eigene Ende. Mit vierundachtzig Jahren hatte er, außer einer Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands, keine Erwartungen mehr. Seine Tagesabläufe bestanden in einer Warteschleife der immer gleichen Tätigkeiten. Es wollte ihm nicht gelingen, die Zeit zu beschleunigen.

Sie waren einander in einem tiefgründigen Hass zugetan, und indem sie feige vor ihm starb, hatte sie ihn seines letzten Inhalts beraubt. Jedes Jahr, wenn Herrmann an ihrem Todestag Elsies Rezept für Szegediner Gulasch kochte, musste er lächeln, während er den Fleischtopf umrührte. Beim Zubereiten seines Lieblingsgerichts hatte sie ihm oft damit gedroht, dass sie ihn irgendwann vergiften würde. Er wusste, dass sie es gern getan hätte, aber sie wollte nicht allein zurückbleiben. Genauso wenig wie er.

Das Fleisch aus dem Sonderangebot des Supermarkts war zäh und eine Herausforderung für die Belastbarkeit seiner Gebissprothese. Aber er konnte es sich wenigstens leisten. Herrmann hatte die Hälfte des Gulaschs gegessen, als er einen merkwürdigen Brocken am Gaumen spürte. Er drehte das harte Stück Gulasch, das sich anfühlte wie ein Knorpel, mit der Zunge im Mund, lutschte die Soße ab und spuckte es zurück auf den Löffel. Seine Pupillen weiteten sich und es fiel ihm schwer, zu begreifen, was er sah. Auf dem Löffel lag das obere Glied eines menschlichen Fingers, einschließlich des Fingernagels. Durch eine merkwürdige Verwachsung der Nagelhaut bildete der Fingernagel die Form eines Dreiecks. In seinem ganzen Leben hatte Herrmann nur eine einzige Person mit dreieckigen Fingernägeln gekannt. Langsam ließ er den Löffel sinken.

In der Verwertungsanstalt wurde bei Engpässen auf dem Kadavermarkt auch Menschenfleisch zu Hundefutter verarbeitet. Wenn sich geschäftliche Möglichkeiten ergaben, gelangte ein Teil des Tierfutters in die Fleischregale von Supermärkten. Man benötigte nur andere Verpackungen. Die Lieferungen des Rohstoffs kamen von Bestattungsunternehmen, die toten Körper waren zuvor als eingeäschert deklariert worden.

Gelegentlich war auch Leichengift in der Fleischmasse, weil man es mit der Haltbarkeit von angetautem Fleisch, das manchmal mehrere Jahre in den Kühlhäusern lagerte, nicht besonders genau nahm. Bei Hunden verursachte der verdorbene Brei ein heftiges Rumoren im Gedärm. Manche Tiere konnten das Problem lösen, indem sie Gras fraßen und sich anschließend erbrachen.


Hermann biss ins Graß, indem er an seinem Erbrochenen erstickte. So hatte es Elsie auf ihre alten Tage doch noch geschafft, ihn zu vergiften.

Mittwoch, September 20, 2006

Devon Domino

Zwei Stubenfliegen umkreisten die flackernde Glühbirne an der Decke. Nachdem er sie etwa eine halbe Stunde beobachtet hatte, wusste Devon Domino, welche der beiden ihm bei der Erfüllung seines Plans behilflich sein würde.

Geduld besaß er reichlich, und irgendwann gelang es ihm, die Fliege zu fangen. Devon band ihr einen Faden um den Rumpf, und obwohl es ihn gereizt hätte, verletzte er das Insekt dabei nicht mehr als nötig. An den Faden knotete er einen kleinen, roten Papierfetzen. Dann brachte er den zappelnden Proteinklumpen zum Fenster, wartete auf einen günstigen Wind und schickte das Tier auf seine Mission.

Auf einem Baugerüst am Haus gegenüber stand ein Maurer. Die Stubenfliege summte mit ihrem Ballast in Richtung des Gerüsts und umkreiste in ihrer Panik und Verstörung mehrfach den Kopf des Maurers. Vor Schreck rutschte ihm die Kelle aus der Hand. Das Werkzeug fiel aus einer Höhe von sieben Metern auf einen vor dem Haus geparkten Sportwagen und schlug eine Delle in die Motorhaube. Der Maurer öffnete sein achtes Bier, um die Wahnvorstellung von summenden Papierfetzen zu bekämpfen, die seinen Kopf umkreisten.

Der Sportwagen war nagelneu. Er gehörte einer Krankenschwester, die lange gespart hatte, um sich das Fahrzeug leisten zu können. Sie entdeckte die Delle, als sie auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus ausstieg, kurz vor Beginn ihrer Nachtschicht. Die Krankenschwester besaß einen Hang zum Aberglauben und interpretierte die Beschädigung ihres Autos als göttliches Zeichen. Die Delle musste bedeuten, dass sie ihre glücklose Affäre mit dem Stationsarzt der Intensivstation beenden sollte.

Als sie ihm ihre Entscheidung noch in derselben Nacht mitteilte, geriet der Stationsarzt außer sich. Im Verlauf der Nachtschicht unterliefen ihm mehrere fatale Fehler. Ein Missgeschick mündete in der falschen Medikamentierung eines Patienten, der im Kreis des Personals nur der Staubsauger-Spinner genannt wurde, weil er in den wenigen Momenten, wenn er zu Bewusstsein kam, in jeder Ecke des Krankenzimmers Spinnen sah und lautstark nach einem Staubsauger verlangte. Die Überdosis führte zu einem Herzstillstand. Der Mann konnte nicht mehr reanimiert werden.

Via Gedankenübertragung erfuhr Devon von einem Artgenossen, der in einem Winkel der Intensivstation lebte, vom Tod des letzten Bewohners der Etage. Die Hauswinkelspinne Devon Domino hatte auch diesen Auftrag mit höchster Präzision erfüllt und würde als Prämie vom Kolonialrat einen Eckplatz in der Speisekammer erhalten. Nie wieder würde der alte Mensch zurückkehren und das Leben von Devon und seinen Artgenossen mit seinem Staubsauger bedrohen können. Zufrieden saß die Spinne in der Mitte ihres Netzes und streckte ihre acht Beine von sich.

Vier Wochen später wurde die gesamte Einrichtung aus der Wohnung geräumt. Dann kamen die Handwerker. Sie rissen die vergilbten Tapeten von den Wänden und verspachtelten die Risse im Verputz mit Gips. Schon nach zwei Tagen reflektierte eine weiß getünchte Raufasertapete in der ganzen Wohnung ein makelloses Licht.

Von Devon und seiner Kolonie hat keine Hauswinkelspinne jemals wieder einen Gedanken vernommen.

Dienstag, September 19, 2006

Unterwegs mit Batman


Guten Flug.

Montag, September 18, 2006

Eine Superheldin in den besten Jahren

Das ständige Pendeln zwischen den beiden Identitäten kostete sie bei jedem Einsatz äußerste Anstrengung. Während der wöchentlichen Sitzungen, die in den letzten Jahren unverzichtbar geworden waren, hielt sie mit Hilfe eines Spezialisten ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten auseinander. Für die mentale Führung bei der Gratwanderung am Rande der Schizophrenie ließ sich der therapeutische Reiseleiter fürstlich entlohnen.

Auf operativer Ebene hatte sie alles im Griff. Im Verlauf der Jahrzehnte war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen, die zivile Kleidung innerhalb von Sekunden gegen Maske und Kostüm auszutauschen. Trotz des fortgeschrittenen Alters erlaubte ihre Konstitution, dass sie sich weiterhin auf übermenschliche Weise für das Wohl der Mitbürger einsetzte. Aber die Zeit war auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen.

Im Gegensatz zu manchen Kolleginnen, die ihre Fähigkeiten einer mindestens außerirdischen Abstammung, oder gelegentlichem Kontakt mit energetischen Substanzen verdankten, musste sie Gewichte stemmen und viele Meilen laufen, um jene Grundkondition zu erhalten, die zur Ausübung des Berufs einer Superheldin erforderlich war. Das Training wurde zunehmend beschwerlicher, und wenn sie sich manchmal nackt vor dem großen Spiegel in der Asservatenkammer betrachtete, zeichneten sich ihre Muskeln zwar noch immer in ästhetisch gelungenen Proportionen ab, die darüber gestülpte, faltige und solariumgetönte Haut jedoch stimmte sie traurig.

Obwohl sie den Schnitt und das Design ihres Kostüms aktuellen Modetrends anpasste, kam sie sich häufig lächerlich vor. Besonders schlimm war es, wenn man ihr abfällige Bemerkungen durch heruntergekurbelte Scheiben zurief. Neben Aufmerksamkeit erzeugte das Kostüm früher auch Anerkennung und gebührende Bewunderung. Inzwischen versuchten zwielichtige PR-Büros und Werbeagenturen, ihr Angebote zukommen zu lassen, wie man sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit besser positionieren könnte.

Ein weiteres Problem lag darin, dass es immer schwieriger wurde, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Auch in den Reihen der Superhelden hatte man Orientierungsschwierigkeiten inmitten des großen Verlusts der Werte.

Gerne würde sie sich noch einmal einer großen Aufgabe stellen, so wie damals, als sie im Bandenkrieg zwischen den Zuhältern schlichtete. Aber sie konnte froh sein, wenn im Tagesgeschäft der Katastrophen ausreichend Aufgaben anfielen, um der Welt zu helfen und sich selbst über Wasser zu halten. In manchen Nächten war das Superheldendasein deprimierend, aber sie bewahrte ihre Haltung.

Mit Netzstrumpfhosen und einer routinierten Lässigkeit schlenderte Psychowoman über den Straßenstrich. In ihrer Handtasche befanden sich die Waffen einer Frau.

Sonntag, September 17, 2006

Voodoo Display #3


Billige Engel haben es sich auf Wolken aus Glas bequem gemacht und beten dich an. Unterwürfig segnen sie den Vorübergehenden mit einem Lächeln aus gehärtetem Plastilin. Die Irokesen sind den Engeln hörig, hypnotisiert von der Schönheit aus Gussformen geborener Serienmodelle.

Im Alabasterlicht der Nachmittagssonne zerfällt jeder Gedanke an Grausamkeit. Man vermag sich nicht vorzustellen, wozu die Engel bei Neumond imstande sind, wenn die Voodookammer vom Vorhang der Dunkelheit verhüllt wird.

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Samstag, September 16, 2006

Ein Porsche in Tarnfarben (XVI)

Von Breuer war ein Hüne wie aus dem Bilderbuch des deutschen Rassenwahns. Die Uniform ließ ihn noch größer wirken. Er blieb für einen, etwas zu langen, Moment im Türrahmen stehen und überblickte das Lokal aus seinen grauen Augen. Neben der Uniform zogen zwei deutlich sichtbare Narben auf seiner Wange, vermutlich Schmisse vom Fechtboden, die versteckten Blicke der wenigen Gäste auf sich. Seine Haarfarbe bestand in einer eigentümlichen Mischung aus kalter Asche und dem weichen Licht einer Kerze.

Der deutsche Offizier lächelte, zog kurz die Augenbrauen hoch und durchquerte den Raum selbstbewusst, in großen Schritten, vorbei an dem platzanweisenden Kellner, der hilflos in Henk Noorlanders Richtung schaute. Der Chef gab seinem Kellner mit einer leichten Drehung des Kopfes aus dem Halbschatten am Ende der Bar zu verstehen, dass dieser Gast mehr Freiheiten besaß als die anderen. Von Breuer setzte sich an einen Tisch für zwei Personen im hintersten Winkel. Seine Uniformmütze legte er so vor sich, dass das spiegelverkehrte Symbol des Sonnenrades, Shivas Fußabdruck, in Richtung der anderen Gäste zeigte. Das pervertierte Erkennungszeichen des Gottes der Zerstörung und Erneuerung schien im rötlichen Licht zu glühen.

In den kommenden Monaten würde von Breuer noch häufig an diesem Tisch sitzen. Jedes Mal bestellte er eine Flasche jungen Genever, die er vollständig leerte. Die Wirkung des Alkohols, die für andere zerschmetternd gewesen wäre, merkte man ihm nicht an, und Henk bemerkte diese Schwäche sofort.
(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, September 14, 2006

Bowling am Schädelstrand

Der Strand war von Skeletten übersäht. Dazwischen fanden sich halbverweste Leichenteile, und ein süßlicher Gestank wurde kilometerweit ins Landesinnere getragen, wenn der Wind aus Meeresrichtung kam. Ein gewöhnlicher Anblick, die toten Körper flößten uns trotz ihrer bizarren Verstümmelungen keine Angst ein.

Es waren die Lebenden, die den unberechenbaren Dämon der Angst in uns weckten. Wem es nicht gelang, diesen Dämon in ein Monster des Hasses zu verwandeln, bezahlte sein Unvermögen mit der wertlosen Währung des eigenen Lebens. Wir ritten auf den Monstern und schwangen Macheten über unseren Köpfen. Die Klingen waren rostig vom vielen Blut, das über sie floss.

Eines Tages spülte die Flut eine Kiste mit Bonbons an den Strand. Der Inhalt war in buntes Papier gewickelt.

Nachdem wir gestritten und uns gegenseitig mit den Macheten kleinere Verletzungen beigebracht hatten, beschlossen wir, um die Beute zu spielen. Ausgebleichte Rippenknochen dienten uns als Kegel, die wir senkrecht in den schwarzen, von Salzwasser und Sonne hart gebackenen Sand steckten. Wir warfen mit Schädeln nach den Knochen, und Ajamu, dem kleinsten in unserer Kampfeinheit, gelang es als erstem, alle Neune mit einem Wurf abzuräumen.

Die Bonbons waren vom Salzwasser verdorben und ungenießbar. Mit dem bunten Papier verzierten wir Totenschädel, bis man uns ins nächste Gefecht schickte. Als wir das Dorf überfielen, wurde Ajamus Kopf von einem Riesen mit einem einzigen Hieb in zwei Hälften gespalten.

Die Spiele am Strand waren unser einziges Vergnügen. Wer könnte es uns übel nehmen?
Wir waren Kinder und kannten keine Schuld.

Mittwoch, September 13, 2006

Rolltreppen

Sie erwecken das Gefühl, es könnte abwärts, oder sogar in die entgegen gesetzte Richtung gehen, ohne dass man sich unterwegs anstrengen müsste. Rolltreppen vermitteln einen trügerischen Eindruck von Bewegung. Tatsächlich werden Körper auf Rolltreppen bewegt, aber gerade durch die geleeartige Form der Bewegung verkörpern Rolltreppen den Stillstand. Sie biedern sich als bequemes und scheinbar unschuldiges Mittel zur Beförderung träger Masse an und blockieren dadurch die Freiheit des selbständigen Gehens. Rolltreppen sind die Fußabstreifer des Stillstands.

Rolltreppen werben mit der Verlockung, Zeit zu sparen. Aber erstens wäre zu klären, auf welchem Konto die eingesparte Zeit verbucht wird, und zweitens besteht die Gefahr, dass man während der eingesparten Zeit versäumt, einen Gedanken von epochaler Bedeutung zu denken. Einen Gedanken, dem durch die Benutzung der Rolltreppe jede Möglichkeit der Entstehung verwehrt bleibt.

Rolltreppen generieren Interferenzen, so dass die elektrischen Impulse im Gehirn anstelle des einen Gedanken von epochaler Bedeutung völlig andere Gedanken von grenzenloser Belanglosigkeit erzeugen. Das Stehen auf einer Rolltreppe fordert die klapprigen Vogelscheuchen namens Belanglosigkeit und Mittelmäßigkeit geradezu heraus, jeden Gedanken vom fruchtbaren Acker des Gehirns fernzuhalten. Während man den einen Gedanken von epochaler Bedeutung denken sollte, denkt man an die Erhöhung der Mehrwertsteuer, oder an Kartoffelbrei.

Durch die Benutzung solider Treppen wird das Denken geschult. Ich habe mir vorgenommen, die Geschwindigkeit bei der Benutzung von Treppen mit zunehmendem Alter zu steigern. Der ideale Tod soll mich beim Erklimmen einer in Fels gehauenen Treppe ereilen.

Dienstag, September 12, 2006

Im Wolkenmuseum



Es hat fast durchgehend geöffnet, und der Eintritt kostet einen gelegentlichen Blick ins unverhüllte Licht der Sonne. Nur an wenigen Tagen im Jahr macht der Himmel blau und schließt die Türen der Ausstellung. Das Wolkenmuseum gehört, zusammen mit dem Wellenmuseum, zu den ältesten öffentlichen Institutionen mit Publikumsverkehr.

Das Besondere am Wolkenmuseum ist, dass es sich bei den ausgestellten Gegenständen ausschließlich um Einzelstücke handelt. Und keines der Werke bewahrt für den Bruchteil der kleinsten Zeiteinheit seine Gestalt.

Alles ist für den Besucher nur mit den Augen berührbar, aber manchmal senkt sich ein Kunstwerk unter dem Druck der Direktion auf die Erde, und dann kann man seinen frischen Duft, den es aus Flakons in Kristallsphären mitgebracht hat, einatmen und das feine Netz seiner Zellen auf der Haut spüren.


In der weltweiten Wanderausstellung liegen die schönsten Exemplare der Sammlung unter Ausschluss von Kuratoren und Ämtern in unterschiedlichen Vitrinen aus klirrender bis flirrender Luft. Wie in jedem anderen Museum lagern einige der kostbarsten Wertgegenstände im Keller. Dem detaillierten Plan des Chaos folgend, wird jedes Kunstwerk ans Licht geholt, wenn seine Zeit gekommen ist.

Noch nie kam ein Ausstellungsstück durch einen Museumsraub abhanden. So etwas passiert manchmal im Museum der Sterne.

Montag, September 11, 2006

Die grüne Mamba und ich


Man sollte Tiere nicht vermenschlichen. Es sei denn, man hat sich als Mensch versehentlich vertierlicht.
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S.a.
>> Hundehai und
>> Wolfsnacht

Sonntag, September 10, 2006

Sog

Während Scholz am Echolot Untiefen ermittelte, ließ Kommandant Milano auftauchen. Durch das Periskop der Cigaro waren keine besonderen Vorkommnisse draußen zu erkennen. Die Wasseroberfläche erstreckte sich wie ein gläserner Teppich bis an den Horizont aus unbefleckt weißer Keramik.

- Die Männer hatten seit Monaten keinen festen Boden unter den Füßen. Wann steuern wir in Richtung Heimathafen?

Maschinist Halmich schaute während seiner Frage aus den Augenwinkeln in Richtung Milano, der neben ihm auf dem Turm des U-Boots stand und die abgestandene Luft wie ein Erstickender in seine knisternden Lungen sog.

- Solange wir keine neuen Anweisungen erhalten, kreuzen wir weiter zwischen den vorgegebenen Koordinaten. Die friedliche Stille um uns ist trügerisch. Wir wissen, dass der Feind aus dem Nichts auftaucht. Sie haben es als Forschungsausflug deklariert, aber es ist mehr als eine Kreuzfahrt unter Wasser. Die Mission kann von einem Moment auf den anderen eskalieren und im Ernstfall darin bestehen, die Existenz unseres Volkes zu verteidigen. Mit den nuklearen Sprengköpfen tragen wir jeden Funken Hoffnung in den Bombenschächten der Cigaro.

- Mit diesen Waffen könnten wir unsere Welt mehrfach in die Luft jagen, aber der Feind bleibt unberechenbar. Die Phasenauswertungen der Forscher lassen immer noch keine Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des nächsten Phänomens zu. Der Feind hat kein Gesicht. Wir wissen nichts über ihn. Er kann jederzeit unvermutet auftauchen und eine neue Katastrophe auslösen, die wieder Hunderttausenden das Leben kostet.

Sie sahen sich kurz in die Augen, zuckten beide mit den Schultern, und kletterten dann über die senkrechten Sprossen der Leiter zurück unter Deck. Milano ließ abtauchen in die Tiefen des kristallklaren Wassers.

Nachdem sich Escher, begleitet von einem gewaltigen Furz, der verdauten Reste seiner Speisen vom Vortag entledigt hatte, erhob er sich von der Klobrille und drückte die Spülung.

Sieben weitere, bleierne Wochen waren vergangen, als die plötzliche Erschütterung des Ozeans, gefolgt von einem Donnergrollen wie aus dem Gedärm der Hölle den schlimmsten Ernstfall ankündigte. Das in kurzen Abständen ausgestoßene Alarmsignal fuhr jedem Mitglied der Besatzung bis ins innerste Knochenmark. Eine halbvolle Fuselflasche zerschellte unbeachtet auf dem Boden, innerhalb von Sekunden waren alle nüchtern und an ihrem Platz.

Das U-Boot wurde von einem unermesslichen Sog erfasst und in weiten Kreisen in die Tiefe gerissen. Die Atomraketen warteten abschussbereit in den Schächten, aber da war kein Ziel auf dem Radar. Scholz und dem kleinen Mann neben ihm, der den eigenartigen Familiennamen Schüssel trug, rollten Schweißperlen über die Schläfen und vermischten sich mit Tränen der Angst. Schüssel konnte jedes elektronische System im U-Boot mit verbundenen Augen zerlegen und wieder zusammensetzen. Er war sicher, dass alles funktionierte. Aber da war nichts auf dem Radar zu sehen.

Plötzlich verebbte der Sog. Escher hob den Deckel des Spülkastens an und rüttelte an dem Schwimmer. Das Beben kostete weiteren 16543 Angehörigen von Kapitän Milanos Volk, das die Kappe des Schwimmers bewohnte, das Leben und löste den Sog erneut aus. Die Cigaro stürzte mit der Flut durch das Spülrohr, prallte gegen eine weiche Masse und wurde zusammen mit der Masse weitere Rohre hinab in übel riechende Kanäle geschwemmt. Nach einer langen Reise und vielen Seemeilen wurde die Cigaro in ein salziges Meer gespült.

- Immer wieder ein schöpferischer Akt, wenn man nach dem Morgenkaffee seinen Darm entleert ...,

dachte Escher und schloss die Klotür hinter sich, nachdem er das schmale Fenster zum Lüften gekippt hatte. Er würde demnächst den alten Spülkasten auswechseln lassen.

Für die Salzwasserumgebung war das U-Boot nicht geeignet. Kapitän Milanos Volk kannte nur den Süßwasserozean. Die Cigaro löste sich mitsamt ihren Nuklearwaffen auf, ohne jemals eine Feindberührung gehabt zu haben.

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>> Unchristliche Seefahrt unter Wasser

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Samstag, September 09, 2006

Ein Porsche in Tarnfarben (XV)

Schon bevor die Deutschen während ihrer Westoffensive die Niederlande überfallen hatten, liefen Henks Geschäfte von Tag zu Tag schlechter. In den Handelsfirmen und Reedereien wurde immer noch Geld verdient, aber nach der Kapitulation zogen sich die meisten aus dem Nachtleben zurück. Die einen in den Widerstand, andere in die Kollaboration. Der überwiegende Teil der Bevölkerung duckte sich, weil man seinen Kopf riskierte, wenn er zwischen anderen Köpfen herausragte.

Henk war kein Kollaborateur, aber als Gastronom im wechselhaften Reich der Halbseide hatte er es immer verstanden, sich aus politischen Komplikationen herauszuhalten. Dieser brüllende Bürstenbart aus Österreich war Henk zutiefst unsympathisch, aber er würde Europa zeigen, dass er der kompromisslose Stärkere war. Und Henk legte sich nicht mit Stärkeren an. Wenn er spürte, dass einer zur mächtig für ihn war, arrangierte er sich mit dem Feind, um ihm in einem Moment, wenn dieser sich sicher fühlte, die Suppe zu vergiften, oder ihm einen stumpfen Dolch von hinten ins Herz zu stoßen, und sich an seinen Qualen zu weiden, wenn der Widersacher langsam verreckte.

Der Name des deutschen Offiziers, der an jenem Tag im Mai das Hamsterradje betrat, war Heinrich von Breuer. Er trug eine Uniform der Luftwaffe, und er war allein. Die Uniform war nicht ungewöhnlich, man musste sich in Amsterdam inzwischen an den Anblick gewöhnen. Aber nie sah man einen der Uniformträger allein. Schon gar nicht nach Einbruch der Nacht.
(Fortsetzung folgt)
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Freitag, September 08, 2006

Feldversuch Museumsmüdigkeit

Schon wenn ich das Wort Museum höre, überfällt mich die Müdigkeit wie ein opiatkranker Tagedieb. Sobald ich ein entsprechendes Gebäude mit ernsten Absichten betrete, reduziert mein Körper die lebenserhaltenden Prozesse auf das Winterschlafniveau einer Feldmaus. Ich sehe dann aus wie Todes Bruder, und die Leute in meiner Nähe fangen an zu gähnen. Noch mehr als sonst.

Als Sammler von Museen sehe ich mich veranlasst, Therapieformen gegen das in der Wissenschaft noch kaum untersuchte Syndrom der Museumsmüdigkeit zu entwickeln. Bitte befolgen Sie keinen der Vorschläge, die Testreihe ist noch nicht abgeschlossen:

1. Sich ab Betreten des Museums ausschließlich rückwärts bewegen.

2. Aus Pornofilmen extrahierte Tonspuren mittels eines transportablen Audio-Geräts abspielen. Wenn man sich darauf versteht, kann man die Laute mitsummen.

3. Jedem zehnten Besucher, dem man während des Rundgangs begegnet, eine Geschmacksfrage zu einem der Gegenstände stellen.

4. Selbstklebende Etiketten mitbringen und die Vitrinen der Ausstellungsgegenstände mit zusätzlichen Erläuterungen versehen.

5. Mit den Aufsichtskräften über parapsychologische Begebenheiten in Museen plaudern.

6. Ein Mobiltelefon auf dem Kopf balancieren und abwarten, ob man angerufen wird. Der Klingelton imitiert eine Schafherde.

7. Die Räume rennend durchqueren. Sobald man außer Puste ist, zu dem Ausstellungsgegenstand zurückkehren, der während der flüchtigen Wahrnehmung am nachhaltigsten beeindruckt hat. (Achtung: schwer kombinierbar mit den Punkten 1. und 6.)

8. Sich von einer Begleitung die Augen verbinden und alles erklären lassen.

9. Oder umgekehrt.

10. Sich zu einem favorisierten Gegenstand eine Geschichte ausdenken, in der das Wort Museum nicht vorkommt. (Gut kombinierbar mit Punkt 7.)

Falls Sie entgegen meinem ausdrücklichen Rat eine der Methoden ausprobieren, bitte ich um einen Testbericht.

Donnerstag, September 07, 2006

Ich wäre gern dabei gewesen ...

... als der Herzog am Amazonas mit einem durchgeladenen Gewehr auf den Kinski gezielt und gedroht hat, ihn zu erschießen, falls er den Drehort verließe,

... als die SGE im Endspiel 5:3 gegen den OFC gewonnen hat,

... als der Bernhard mit dem Peymann im Hosenladen stand,

... als der Magellan in Sevilla an Bord ging,

... als die Williams ihr erstes Konzert mit den Plasmatics gab,

... als der Sage die Stücke zu Is this real? mit den Wipers aufgenommen hat,

... als der Castro und der Guevara gemeinsam auf der Granma nach Kuba aufgebrochen sind,

... als der Lindbergh in Paris gelandet ist,

... als der van Gogh ein Stück seines in Zeitungspapier eingewickelten Ohres der Rachel überreichte,

... als der Gott am siebten Tag zum großen Matratzenhorchdienst antrat.

Mittwoch, September 06, 2006

Voodoo Display #2


Immer, wenn mir eine Sicherung durchbrennt, besorge ich in diesem Laden das passende Ersatzteil. Dort findet man alles, was für die Ausleuchtung des Oberstübchens notwendig ist.

Das Angebot umfasst auch Zubehör jeder Art zur Erweiterung von Schaltkreisen. Mit gezieltem Griff zaubert der Inhaber hinter seinem Ladentisch Relais, Dioden, Transistoren, Thyristoren, Kondensatoren, und andere Utensilien der elektrisierenden Voodoo-Magie aus unzähligen Schubladen hervor.

Vor allem, wenn es um ältere Ersatzteile geht, die schon seit langer Zeit nicht mehr hergestellt werden, ist auf das Sortiment Verlass. Aber was werde ich tun, wenn es diesen Laden irgendwann nicht mehr gibt?

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Dienstag, September 05, 2006

Nullsummenspiel

"If you like to gamble,
I tell you I'm your man.
You win some you loose some,
It's all the same to me."
Motörhead (Ace of spades)

Poker mit Gefühlen war ein Spiel, an dessen Regeln er sich nicht halten konnte. Hätte man ihn aber ertappt und die gezinkten Karten, die er routiniert aus dem Ärmel mogelte, offen auf den Tisch geworfen, wären dort keine Asse verstreut gewesen.

Obwohl um hohe Einsätze gespielt wurde, drang selten die natürliche Angst des Spielers durch seine
rissige Haut. Anstatt den Kopf vor den Begabungen der menschlichen Seele ehrfürchtig zu neigen, starrte er in künstliche Sonnen, bis sein Profil mit der Pokermaske verschmolz. Er wurde mit den Jahren zunehmend ungehobelter, und Konturen verloren sich in genormten Mustern. Nach den Turnieren zog er miserable Zwischenbilanzen. Beim Mischen der Karten waren die Vorraussetzungen für alle gleich, aber wo blieb die Kombination für ein Full House oder den Royal Flush? Sein Blatt eignete sich nur zum bluffen, und am Ende verlor er jedes Spiel.

Vielleicht lag der Reiz des Spiels im gekonnten Verlieren. (Dann hätte er Spannung beim spielen verspürt oder zumindest eine Erwartungshaltung besessen.) Vielleicht gab es keine Gewinner und Verlierer. (Dann wäre es kein Spiel gewesen.) Vielleicht gab es keine Mitspieler, und er spielte immer nur gegen sich selbst. (Dann wäre das Verlieren nur noch eine Frage des Blickwinkels gewesen, und er hätte zu jedem Verlust einen Gewinn in gleicher Höhe verbuchen können.)

Epochale Strategien in seinem Umfeld verfolgte er mit verstecktem Interesse. Andere spielten ihre Karten taktisch klug, zu idealen Zeitpunkten. Manchmal vergoldeten sie sogar ihre Nieten, und die Gewinne investierten sie in Rohstoffe. Neue Gefühle, die sie mit handwerklichem Geschick bearbeiteten, bis scheinlebendige Skulpturen entstanden.

In seinem Fall verhielt es sich umgekehrt. Nach Verlassen des exotischen Kontinents seiner Kindheit stand eine Skulptur im unbewohnten Raum, an der sich weiche Konturen abzeichneten. Kein Meisterwerk, aber es hatte ein inneres Gesicht, auf dem sich Gefühle spiegelten. Er bewarf die Skulptur mit nassem Lehm, der in der Hitze der künstlichen Sonnen schnell trocknete und eine rissige Haut bildete. Immer neue Schichten ließen die Haut dicker und undurchlässiger werden.


Irgendwann nahm er eine schwere Stange aus Eisen und schlug auf die Skulptur ein. Die Stange zerbrach.

Montag, September 04, 2006

Der Befall

Mitten in der Nacht wurde Escher von einem Schmerz geweckt, der sich, wie mit einer stumpfen Axt gehauen, quer durch seinen Körper zog. Er saß bis zum Morgengrauen am Küchentisch, ein Glas Leitungswasser leistete ihm fade Gesellschaft. Escher konnte nicht feststellen, ob es sich bei dem Schmerz um eine gute oder eine schlechte Angelegenheit handelte, denn einen Schmerz dieser Kategorie hatte er noch nie empfunden. Immerhin war es ein Gefühl, und in der Zeitung hatte er gelesen, dass mit Gefühlen behutsam umzugehen sei.

Der Schmerz begleitete Escher auf dem Weg zur Arbeit und wollte auch im Verlauf des Tages nicht von ihm weichen. Also verfügte er sich mit seinem Schmerz zu einem Spezialisten, der eine Reihe halbherziger Untersuchungen an Escher vornahm. Dabei sah ihm der Spezialist kein einziges Mal in die Augen.

- Handelt es sich bei diesem Gefühl um einen guten oder um einen bösen Schmerz?

Escher rechnete mit dem Schlimmsten.

- Herr Escher. Es ist ernster, als es sich jemals anfühlen könnte, und doch nicht schlimmer, als ich zunächst befürchtet hatte. Bei Ihrem Schmerz diagnostiziere ich eine weit verbreitete Art des Seelenbefalls. Diese Art von Ungeziefer wird durch flüchtigen Blickkontakt übertragen und grassiert derzeit wie eine Seuche. Aber es gibt eine Heilmethode. Mit einem kleinen Schnitt wird ihnen heute schon zu helfen sein.

Der Spezialist führte die Operation auf der Stelle durch. Trotz fehlender Narkotisierung spürte Escher den Schnitt kaum, und er war sofort von seinem stumpfen Schmerz kuriert.

Aber so schnell, wie der Schmerz verschwunden war, kam er zurück. In den folgenden zwei Wochen verging kein Werktag ohne ambulante Seelenoperation. Die entfernten Teile sammelte der Spezialist nach pathologischer Betrachtung in einem schwarzen Glaskolben.

Bei Eschers letztem Besuch in der Praxis eröffnete ihm der Spezialist eine Furcht einflößende Nachricht.

- Um zu verhindern, dass sich der Befall auf weitere Teile ihrer Persönlichkeit ausweitet, werden wir eine vollständige Entfernung vornehmen müssen. Aber keine Sorge, dieser Verlust beeinträchtigt den Alltag eines Patienten in nahezu hundert Prozent der Fälle kaum. Nur die nach Entfernungen gelegentlich auftretenden Phantomschmerzen sind nicht auszuschließen.

Die Operationswunde vernarbte zufrieden stellend, und Escher war dauerhaft von seinem dumpfen Schmerz geheilt.

Das Gefäß mit den entfernten Teilen hatte ihm der Spezialist überlassen. Seither stand es auf Eschers Nachttisch. Wenn ihn gelegentlich ein Phantomschmerz überfiel, berührte er das kalte Glas mit den Fingerspitzen. Irgendwann würde er den Seelenkolben vielleicht sogar öffnen und einen Blick hineinwerfen. Es war eine Zeitbombe. Wie jeder versiegelte Sondermüllbehälter.

Aber noch hatte Escher seine Neugier unter Kontrolle.

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Sonntag, September 03, 2006

Sing uns ein Lied aus deiner Heimat

Was ist zu tun, wenn man im Verlauf eines geselligen Abends in einer irischen Kneipe, an einem Lagerfeuer in Ghana, oder in einer japanischen Karaoke-Bar dazu aufgefordert wird, ein deutsches Lied zu singen?

Am einfachsten ist die japanische Situation zu lösen. In fernöstlichen Karaoke-Kästen lungern manchmal Gassenklopper wie Da-da-da von Trio oder Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen, zur Not auch in der Version von Nina Hagen. Danach werden die Japaner kichern und den Gast aus Deutschland für noch exotischer halten. Aber erstens kommt Exotik in Japan gut an, und zweitens ist Deutschland dort tatsächlich exotisch.
Der Abend wäre gerettet.


Schwieriger wird es beim freihändigen Singen in Irland oder Ghana. Bisher habe ich mich in den gefürchteten Lagerfeuer-, oder Kneipensituationen an einem Gefäß mit dem jeweiligen alkoholischen Nationalgetränk festgehalten und Die Gedanken sind frei in die fröhliche Runde geschmettert. Aber der Text des Liedes deprimiert mich jedes Mal, denn wem nutzen freie Gedanken, wenn man sie nicht jederzeit und an jedem Ort der Welt frei äußern kann? In der dritten Strophe dieser Hymne der 48er Revolution kommt das Malheur deutlich zum Ausdruck. Außerdem - und dieser Punkt ist wesentlich entscheidender, weil den Text versteht sowieso keiner in den wilden Gegenden Ghanas oder Irlands - tritt aufgrund des verfänglichen A-Dur eine Schwermut ans akustische Licht, die im deutschen Liedgut verankert zu sein scheint. Man könnte es auch im unverfänglicheren C-Dur schmettern, aber das käme meiner Stimmlage nicht so beherzt entgegen.

Ich kenne deutlich mehr englische Texte von Interpreten unterschiedlichster Couleur auswendig, als deutsche Lieder. Leider nur halbverblasste Erinnerungen an die deutsche Hitparade mit Dieter Thomas Heck bieten ebenso wenig Inspirationshilfe, wie Modetrends, angefangen bei der NDW, bis hin zu Hamburger und sonstigen Schulschwänzereien.

Bei der nächsten zwingenden Gelegenheit in der Fremde werde ich vielleicht den Mackie Messer darbieten. Oder vielleicht sogar die Arie des Vogelfängers aus der Zauberflöte. Eine witzige Vorstellung, irgendwo im Herzen Afrikas.

Samstag, September 02, 2006

Voodoo Display #1




Wieder gehe ich an dem seit Jahren unveränderten Schaufenster vorüber. Ich würde es nie wagen, diesen Laden zu betreten. Ein Schritt über die Tabugrenze ins Innere des Schreins würde entweder den besänftigenden Zauber der Voodoo-Ladies zunichte machen, oder man sähe körperlose Dinge, deren Anblick einen wie der Fluch des Patriarchen bis ans Lebensende begleitet.

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Freitag, September 01, 2006

Bruderkuss

Don Feo war Patenonkel der Pesadillo Zwillinge. Vor neunzehn Jahren erfüllte er seine verwandtschaftliche Pflicht und adoptierte die beiden nach den Morden am Rest ihrer Familie. Damals waren sie noch Kinder und spielten im Sandkasten. Später wurden Joe und Nelson Pesadillo die wichtigsten Finger an der rechten Hand ihres Paten. Sie halfen ihm dabei, seinen Sandkasten sauber zu halten, ein Areal, das sich über ein Drittel von Oklahoma City erstreckte. Don Feo konnte sich auf die beiden besser verlassen, als auf sich selbst. Er übertrug ihnen alle Aufgaben, die er den anderen Familienmitgliedern nicht zutraute.

Joe und Nelson waren zweieiige Zwillinge und vollkommen unterschiedlich in ihren Eigenschaften. Der energische Nelson besaß einen kompakten Körper und dichtes, schwarzes Kopfhaar, das er mit einem Gel bändigte. Obwohl er sich zweimal täglich rasierte, lag über seiner unteren Gesichtshälfte immer ein dunkler Schatten. Ungestüm wie sein Haarwuchs war sein Charakter. Er hatte Mühe, seine Neigung zu unvermittelter und übertriebener Gewalt zu beherrschen. Häufig musste er von seinem besonnenen Bruder Joe gebremst werden.

Im völligen Gegensatz zu Nelson war Joe groß und hager. Die rotblonden Haare begannen bereits in seiner Jugend, auszufallen. Er war blass, erweckte einen lethargischen Eindruck und sprach wenig. Aber in den entscheidenden Situationen war er sowohl körperlich, als auch gedanklich schneller und wendiger als Nelson.

Von den chinesischen Triaden, mit denen sich Don Feo und die Polen die Stadt teilten, hatte das Zwillingspaar den Spitznamen The Yinyangs bekommen, weil sie sich bei der Abwicklung von Don Feos Geschäften wie Zahnräder ergänzten. Aber ebenso sehr, wie sie sich geschäftlich ergänzten, stritten sich die beiden während der restlichen Zeit. Jeder wollte in der Gunst des Paten der erste sein, und die Tradition gab vor, dass nur einer die Nachfolge des Familienoberhaupts antreten konnte.

Als sie sich am Bahnsteig trafen, begrüßten sie sich wie gewohnt mit einem Wangenkuss. Der Zug war nur noch wenige Meter entfernt, da versetzte Joe seinem Bruder einen Stoß, und Nelson fiel auf die Gleise. Noch bevor sein Oberkörper vom Zug zerquetscht und zur Hälfte durchtrennt wurde, feuerte Nelson zwei Schüsse auf Joe ab. Eine Kugel traf die linke Schulter. Joe begriff die Situation sofort. Nelson musste seinen entsicherten Revolver schon in der Hand gehabt haben, als er ihn vor den Zug stieß. Vermutlich hatte ihm der Pate dieselbe Geschichte aufgetischt.

Nur eine Stunde später starrte ihn der Don mit einem Loch zwischen den Augen und eingefrorenem Blick an. Sein Geheimnis, dass er vor neunzehn Jahren den Bruder und die Schwägerin eigenhändig aus dem irdischen Dasein befördert hatte, nahm Don Feo mit ins Grab.

Nach der Beerdigung sah sich Don Pesadillo nach geeignetem Nachwuchs für den engeren Familienkreis um.